Übersicht über die INTOSAI-P 50

Der Autor, Gilles Miller. Quelle: Cour des Comptes

von Gilles Miller, leitender Prüfer und Verbindungsbeamter für das Forum der ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen beim französischen Rechnungshof

Die INTOSAI-Grundprinzipien führen die fachlichen Verlautbarungen der INTOSAI an, gleich nach den Deklarationen von Lima und Mexiko, welche die „Magna Carta“ der externen staatlichen Finanzkontrolle bilden und die Voraussetzungen für ihr unabhängiges und effizientes Funktionieren definieren. Momentan, im Jahr 2024, gibt es drei Grundprinzipien: eines befasst sich mit dem Wert und Nutzen von ORKB für Bürgerinnen und Bürger (INTOSAI-P 12), ein anderes mit Transparenz und Rechenschaftspflicht (INTOSAI-P 20) und das dritte führt die 12 Grundsätze auf, welche die Tätigkeiten von ORKB mit Rechtsprechungsaufgaben bei der Erfüllung ihrer Aufgaben anleiten sollen.

Die Rede ist von der Norm INTOSAI-P 50, die anlässlich des XXIII. INCOSAI (im September 2019) angenommen wurde und darauf abzielt, Mitglieds-ORKB der INTOSAI mit Rechtsprechungsaufgaben bei der Ausarbeitung ihres eigenen professionellen Ansatzes, der ihrem Auftrag sowie den Gesetzen und Regelungen ihrer Länder entspricht, zu unterstützen. Dabei handelt es sich um ein geteiltes Dokument, das in Abstimmung mit dem Forum für Fachliche Verlautbarungen (FIPP) ausgearbeitet und von der INTOSAI anerkannt wurde und das als Referenz für alle ORKB, die bereits mit der Rechtsprechung befasst sind oder dazu aufgefordert werden, eine solche Tätigkeit aufzuziehen, gedacht ist.

Eine ORKB hat Rechtsprechungsbefugnisse, wenn sie dank ihres Mandats und ihres Aufbaus nicht nur alle Prüfungsarten, die eine ORKB durchzuführen hat, durchführen kann, sondern wenn sie darüber hinaus auch die Befugnis hat, im Falle von Unregelmäßigkeiten oder Misswirtschaft über die Haftung von rechenschaftspflichtigen Personen zu entscheiden. Insofern unterscheiden sich die Rechtsprechungstätigkeiten von Prüfungen der Rechnungsführung, Wirtschaftlichkeitsprüfungen sowie Prüfungen der Ordnungs- und Rechtmäßigkeit, auch wenn sie unter Umständen gleichzeitig mit diesen stattfinden oder im Anschluss an diese begonnen werden. Von nun an müssen gerichtliche Verfahren besonders strengen Grundsätzen entsprechen, da diese direkten Einfluss auf die persönliche Situation von Individuen nehmen und ein Verstoß gegen diese Grundsätze den Rechtspruch selbst bedroht.

Die INTOSAI-P 50 bildet einen festen Bestandteil des INTOSAI-Rahmenwerks für Fachliche Verlautbarungen (FIPP) und ihre Grundsätze sind für die Anwendung in Verbindung mit allen anderen fachlichen Verlautbarungen gedacht: Die INTOSAI-P 50 widerspricht keiner einzigen. Auf der anderen Seite trägt die INTOSAI-P 50 zur Schließung einer Lücke bei: Sie ist das fehlende Teil des Puzzles aus den zahlreichen fachlichen Verlautbarungen (Grundprinzipien und Normen), in denen die Rechtsprechungstätigkeit von ORKB zwar erwähnt, aber bisher nie definiert wurde. So erwähnen die Deklarationen von Lima und Mexiko explizit die Notwendigkeit, Schadenersatz für erlittene Verluste zu fordern, was eine der Aufgaben von ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen ist, sowie die Möglichkeit der Sanktionierung. ISSAI 100 über die allgemeinen Grundsätze der staatlichen Finanzkontrolle, ISSAI 130 über den Pflichten- und Verhaltenskodex und ISSAI 400 sowie ISSAI 4000 über die Rechts- und Ordnungsmäßigkeitsprüfungen erwähnen ebenso die Zuständigkeitsbereiche bestimmter ORKB, die als Gerichtsbarkeiten anerkannt oder mit rechtlichen Sanktionierungsbefugnissen ausgestattet sind, verweisen für deren Definition jedoch auf Grundprinzipien, die vor der Annahme der INTOSAI-P 50 im Jahr 2019 nicht existierten.

Die offizielle Präsentation der 12 Grundsätze erfolgt in der INTOSAI-P 50 nicht chronologisch (das heißt, sie beschreibt die folgenden Grundsätze unabhängig davon, ob sie am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Gerichtsverfahrens gelten). Einer anderen Logik folgend, die mehreren INTOSAI-Normen eigen ist, werden sie von den eingeschränktesten (durch Gesetze, ORKB-externe Grundsätze) bis hin zu den freiesten (die Grundsätze, die eine ORKB vollkommen autonom umsetzen kann) dargelegt. Hier werden sie in der Reihenfolge der INTOSAI-P 50 vorgestellt.

  1. Die Dienstpflichten einer rechenschaftspflichtigen Person und die rechtliche Sanktionierung von Verstößen durch die ORKB sind gesetzlich geregelt. Das ist der Legalitätsgrundsatz: Es sind Gesetze, die eine Haftungsregelung vor einer Gerichtsbarkeit festlegen (Art der Haftung oder Typologie der Verstöße, Strafen und Sanktionierungsmodalitäten); die ORKB kann sich natürlich nicht selbst zum Gericht machen und sie kann einen Verstoß oder ein Vergehen nur dann sanktionieren, wenn die Umstände ihrer Intervention gesetzlich genau geregelt sind.
  2. Die Unabhängigkeit des mit einer gerichtsförmigen Prüfung betrauten Mitglieds bzw. der Mitglieder der ORKB gegenüber anderen staatlichen Stellen ist gesetzlich verankert. Der Unabhängigkeitsgrundsatz bezieht sich auf die Unabhängigkeitsgarantien der ORKB in ihrer Funktion als Gericht oder ihres rechtsprechenden Organs sowie auf jene ihrer Mitglieder bei der Ausübung ihrer Rechtsprechungsbefugnisse.
  3. Die Tätigkeit der ORKB erfordert die Befugnis oder das Recht auf freien Informationszugang. Dieser Grundsatz besagt, dass die ORKB für ihre Rechtsprechungstätigkeit und Ermittlungsmaßnahmen über vollkommen freien Zugang zu Dokumenten verfügen muss, um die Wahrheit ermitteln zu können.
  4. Verstöße werden nach Ablauf einer hinreichenden Frist nach Begehung oder Aufdeckung nicht mehr verfolgt bzw. geahndet. Dieser Grundsatz richtet ein „Recht auf Vergessenwerden“ ein. Auf zu lange zurückliegende Tatbestände sollten Verjährungsfristen angewendet werden. Das ist ebenfalls eine Aufforderung, nicht zu viel Zeit zwischen dem Zeitpunkt des Fehlverhaltens und der Sanktionierung durch die ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen verstreichen zu lassen.
  5. Jeder Urteilsspruch einer ORKB wird bei Einlegung von Rechtsmitteln, das heißt Einreden oder Berufungs- und Revisionsanträgen, nach Maßgabe des geltenden nationalen Rechts überprüft. Das Recht auf die Einlegung von Rechtsmitteln vor einem anderen Gericht sorgt für Sicherheit und somit für Qualität. Man kann sagen, dass es dem Akt des Urteilens innewohnt.
  6. Die ORKB stellt sicher, dass die Betroffenen ein nach dem allgemeinen Prozessrecht faires Verfahren erhalten. Das Recht auf ein faires Verfahren, das die uneingeschränkte Einhaltung des Rechts auf Verteidigung garantiert, wohnt dem Akt des Urteilens ebenfalls inne.
  7. In Vorschriften zur gerichtsförmigen Prüfung durch die ORKB und einschlägigen Verfahren wird die Unparteilichkeit von Urteil und Urteilsfindung verankert. Während sich der Unabhängigkeitsgrundsatz (2) auf die ORKB als Institution bezog, bezieht sich der Unparteilichkeitsgrundsatz auf jede Person, die an der Urteilsfindung mitwirkt.
  8. Auf die gerichtsförmige Prüfung folgt die Verkündung und Durchsetzung eines Urteils.Die Angemessenheit des Strafmaßes für den Betroffenen ist sicherzustellen. Dabei handelt es sich um den Wirksamkeitsgrundsatz der gerichtlichen Entscheidung. Eine ORKB, die keine Entscheidungen (res iudicata) erlässt, sondern lediglich nicht rechtskräftige Vorschläge, ist kein vollwertiges Rechtsprechungsorgan.
  9. Eine Betroffene bzw. ein Betroffener darf nicht mehrfach von der ORKB für die gleiche Pflichtverletzung mit derselben Strafe belegt werden. Sofern gesetzlich zulässig, ist die Ahndung mit unterschiedlichen Strafformen durch ORKB und andere gerichtliche Instanzen möglich. Aufgrund dieses Grundsatzes, der oft mit dem lateinischen Ausdruck „Non bis in idem“ oder „Ne bis in idem“ übersetzt wird, darf derselbe Tatbestand nicht zweimal sanktioniert werden, zumindest nicht im selben Rahmen. Ebenso darf niemand dazu verurteilt werden, denselben Schaden zweimal zu ersetzen.
  10. Die ORKB gewährleistet die Erfüllung der Anforderungen an die gerichtsförmige Prüfung durch eine wirksame Qualitätssicherung. Die Einrichtung einer einschlägigen Qualitätskontrolle ist verpflichtend für ORKB: Für ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen muss diese Pflicht an die Besonderheiten der Entscheidungsfindung, die nur in Übereinstimmung mit bestimmten Verfahren angefochten und hinterfragt werden kann, angepasst werden. Dennoch können die Strukturen und Verfahren Qualitätskontrollmaßnahmen unterliegen und so zur Qualitätssicherung der Rechtsprechungstätigkeit beitragen.
  11. Die ORKB führt das Gerichtsverfahren in angemessener Frist zu Ende. Richterinnen und Richter sowie alle sonstigen am Verfahren beteiligten Akteurinnen und Akteure sind aufgefordert, das gerichtliche Verfahren nicht grundlos zu verzögern. Die Anforderungen der Ermittlungen und die Ausübung des Rechts auf die Einlegung von Rechtsmitteln können es jedoch hinauszögern, ohne dass das Erfordernis einer angemessenen Frist geltend gemacht werden kann.
  12. Die ORKB stellt sicher, dass das Urteil wie jede gerichtliche Entscheidung unter Wahrung der geltenden rechtlichen Bestimmungen zu Geheimhaltung, Vertrauensschutz und Datenschutz öffentlich ist. Die ORKB mit Rechtsprechungsbefugnis muss darauf achten, dass die gesetzlichen Vertraulichkeitsbestimmungen eingehalten werden. Gleichzeitig muss sie zur Verbreitung ihrer Rechtsprechung beitragen, um Bürgerinnen und Bürger sowie betroffene Personen zu informieren (Kommunikationsgrundsatz).

Fazit

Die nunmehr mit diesen 12 Grundsätzen ausgestatteten ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen, die im Forum der ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen zusammengekommen sind, haben mit der Ausarbeitung eines Leitfadens (GUID) begonnen. Dieser soll die Umsetzung und Anwendung dieser Grundsätze, die sich auf die sehr spezifischen Umfelder und die Art dieser Tätigkeit beziehen, erleichtern, indem er einen allgemeinen Handlungsrahmen bietet. Im März 2024 wurde dem KSC der Entwurf des Leitfadens zur Aufnahme in die INTOSAI GUIDs vorgelegt (siehe den nachfolgenden Artikel dieser Ausgabe der INTOSAI-Zeitschrift für Informationen zu den Leitlinien).

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