Leitlinien für die Anwendung der 12 Grundsätze der INTOSAI-P 50

von Gilles Miller, leitender Prüfer und Verbindungsbeamter für das Forum der ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen beim französischen Rechnungshof

Anlässlich seiner Generalversammlung in Lissabon (Portugal) im September 2021 verabschiedete das Forum der ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen einen Leitfaden, der die Erfüllung der Aufgaben in den Bereichen Rechtsprechung und Streitsachen durch ORKB mit derartigen Befugnissen bekannt machen und fördern soll. Diese Leitlinien liefern und veranschaulichen sehr konkret den Bezugsrahmen für diese Erfüllung unter den Bedingungen der Unabhängigkeit, Objektivität oder Neutralität, der Rechtsverbindlichkeit, des öffentlichen Interesses und der Fairness, die den höchsten internationalen Anforderungen entsprechen.

Das Ziel dieser Leitlinien besteht darin, ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen bei der Erarbeitung oder Umsetzung der zwölf Grundsätze der INTOSAI-P 50, die sich auf das spezifische Umfeld der Tätigkeiten von ORKB mit einem derartigen Mandat beziehen, zu unterstützen. Ihre Ausarbeitung dauerte fast ein Jahr: Sie beruhte auf der Auswertung äußerst genauer Antworten auf einen an zirka 40 ORKB versendeten Fragebogen. Auf der Grundlage der von diesen ORKB gesammelten Erfahrungen und der komparativen Untersuchung ihres Aufbaus sowie ihrer Verfahren war es möglich, einen gemeinsamen Handlungsrahmen im Zeichen des „größten gemeinsamen Nenners“ auszuarbeiten.

Diese Leitlinien betreffen in erster Linie ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen, also gemäß den Definitionen der INTOSAI-P 50 ORKB mit dem Mandat, die Haftung von Managerinnen und Managern oder Rechnungsführerinnen und -führern des öffentlichen Sektors direkt zu hinterfragen, wenn sie Unregelmäßigkeiten ermitteln oder von einem Dritten dazu aufgefordert werden.

Natürlich steht der Leitfaden vollkommen im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen der staatlichen Finanzkontrolle (ISSAI 100), deren § 15 er erweitert. Er enthält keine einzige zusätzliche Anforderung an die Durchführung von Prüfungen. Er richtet sich vor allem an die in der INTOSAI-P 50 und der Einleitung der Leitlinien definierten Akteurinnen und Akteure des gerichtlichen oder strittigen Verfahrens. Einige wenige Leitlinien, die sich auf Handlungsmöglichkeiten beziehen, richten sich an die Leitung oder das Präsidium der ORKB.

In einigen ihrer fachlichen Verlautbarungen erkannte die INTOSAI die Notwendigkeit, die Besonderheiten von ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen zu berücksichtigen (ISSAI 100 „Allgemeine Grundsätze der staatlichen Finanzkontrolle; ISSAI 130 „Pflichten- und Verhaltenskodex; ISSAI 400 „Grundsätze der Rechts- und Ordnungsmäßigkeitsprüfung“ und ISSAI 4000 über die Abwicklung der Ordnungsmäßigkeitsprüfungen) bereits an, jedoch ohne zu beschreiben oder zu verdeutlichen, was unter diese besondere Art des Mandats fällt.

Um zu einer wirksamen Umsetzung beizutragen, ist es hilfreich, ORKB diese Grundsätze zu präzisieren und zu verdeutlichen. An die INTOSAI-P 50 anknüpfend zielen diese Leitlinien dementsprechend darauf ab, die zahlreichen fachlichen Verlautbarungen, die bloß die Möglichkeit erwähnen, dass bestimmte ORKB Urteile erlassen können, zu ergänzen.

Daher ist dieser Leitfaden die Referenz für alle ORKB, die der gegebenen Definition entsprechen, und sogar für jene, die sich mit Rechtsprechungsbefugnissen ausstatten wollen! In diesem Sinne legt er die beste Art, die Grundsätze der INTOSAI-P 50 umzusetzen, dar und kann daher auch eine Reihe Gebote und Empfehlungen für jene ORKB darstellen, die sich einem Rechtsprechungsmodell annähern möchten oder die der Gesetzgeber mit Befugnissen in den Bereichen Rechtsprechung und Streitsachen auszustatten gedenkt.

Den Leitlinien ist aus zwei Gründen keine Ausarbeitung einer ISSAI vorangegangen:

  • die zwölf Grundsätze der INTOSAI-P 50 wurden genau genug definiert, um als gemeinsamer normativer Rahmen zu dienen (der Grundsatz und seine Anforderungen werden zu Beginn jedes Kapitels des Leitfadens in Erinnerung gerufen);
  • der Eingriff des Gesetzgebers jedes Landes, zur Festlegung des Aufbaus und der Verfahren der ORKB für ihre Rechtsprechungsbefugnisse, macht es unmöglich, einen einheitlichen verbindlichen Rahmen festzulegen.

Demgegenüber war es – wie bereits erwähnt – durchaus möglich, auf der Grundlage der von ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen gesammelten Erfahrungen und der komparativen Untersuchung ihres Aufbaus sowie ihrer Verfahren, einen weitgehend geteilten Handlungsrahmen im Zeichen des „größten gemeinsamen Nenners“ auszuarbeiten. 


Der Leitfaden kann nun offiziell veröffentlicht werden. Es wäre wünschenswert, dass dies ohne größere Verzögerungen geschieht, aus allen bereits aufgeführten Gründen, die wie folgt zusammengefasst werden können:

  • mehrere fachliche Verlautbarungen (und nicht unbedeutende) erwähnen ORKB, die richterliche Befugnisse ausüben, ohne diese jemals zu definieren. Die INTOSAI-P 50 schließt seit 2019 zwar schon einen großen Teil der Lücke, aber zahlreiche ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen verspüren die Notwendigkeit, die Grundsätze konkret zu veranschaulichen, auch wenn diese die Stellung einer Norm haben;
  • Der Leitfaden spiegelt die aktuellen bewährten Verfahren in diesem Bereich wider; er gewährleistet eine gemeinsame Sichtweise auf alle Aspekte eines fairen Verfahrens, auf eine wirksame Entscheidung, auf die einer Richterin bzw. einem Richter, der Ermittlungsbehörde und der Staatsanwaltschaft übertragenen Befugnisse usw.
  • Letztendlich ist er aus der gesammelten Erfahrung von über 40 Obersten Rechnungskontrollbehörden, die Prüf- und Rechtsprechungsbefugnisse vereinen, und das in manchen Fällen schon seit Jahrhunderten, entstanden.
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