Ein Hoch auf Oberste Rechnungskontrollbehörden (ORKB) mit Rechtsprechungsbefugnissen
von Pierre Moscovici, erster Vorsitzender des französischen Rechnungshofs und Co-Vorsitzender des Forums der ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich bin stolz, diese Sonderausgabe der INTOSAI-Zeitschrift zu ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen, die vom französischen Rechnungshof angeregt wurde, präsentieren zu dürfen. Ich freue mich und bin dankbar, dass die Zeitschrift und ihre Vizepräsidentin, Jessica Du, diesen Vorschlag weit über unsere Erwartungen hinaus unterstützt haben.
Ungefähr 25 % der in der INTOSAI vertretenen Obersten Rechnungskontrollbehörden üben Rechtsprechungstätigkeiten aus. Die meisten davon sind in französisch-, spanisch- und portugiesischsprachigen Regionen zu finden. Es handelt sich jedoch um ein attraktives Modell, das über diese sprachlichen und kulturellen Sphären hinausgeht: Südafrika, Lettland und Thailand haben ihre ORKB vor Kurzem mit einer neuen Kompetenz und einer geeigneten Struktur ausgestattet, um die Zweckentfremdung öffentlicher Gelder zu sanktionieren. Andere, wie Indonesien oder Vietnam, sind bestrebt, neue Rechtsprechungsbefugnisse oder gleichwertige Aufgaben zu erhalten. Es handelt sich ebenfalls um ein sich weiterentwickelndes Modell: Der französische Gesetzgeber reformierte die seit Jahrzehnten bestehende Haftungsregelung für Managerinnen und Manager des öffentlichen Sektors vor Kurzem radikal.
Obwohl sie einen erheblichen Teil der in der INTOSAI vertretenen ORKB ausmachen, sind die ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen nicht so zahlreich wie jene, die dem Modell einer unabhängigen dem Parlament angegliederten Behörde, die für die Prüfung der staatlichen Rechnungsführung sowie die Bewertung der staatlichen Maßnahmen im Namen des Parlaments zuständig sind, folgen.
Demnach können die Beschaffenheiten von ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen, ihre Aufgaben und Funktionen weitgehend unbekannt sein, falsch verstanden oder unterschätzt werden. Diese Sonderausgabe verfolgt das Ziel, Sie dabei zu unterstützen, ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, was sie sind, wie sie arbeiten und wie sie ihre Aufgaben erfüllen. Zudem hoffen wir, ein besseres Verständnis für die Nutzen, die ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen der Gesellschaft erbringen können, zu fördern. Wir haben sieben grundlegende Nutzen, die sich aus den Rechtsprechungsbefugnissen von ORKB ergeben, bestimmt. In dieser Sonderausgabe werden Ihnen diese im Detail erläutert.
Was machen wir?
Eine ORKB verfügt über eine Rechtsprechungsbefugnis, wenn sie das gesetzliche Mandat erhalten hat, eine Person wegen einer Unregelmäßigkeit oder eines Schadens im Zusammenhang mit der Verwendung öffentlicher Gelder nach Abschluss eines kontradiktorischen Verfahrens zu sanktionieren, vorausgesetzt dies fällt in den Zuständigkeitsbereich der ORKB und kann der betreffenden Person zugeordnet werden.
ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen zeichnen sich durch eine Vielfalt an Formen und Verfahren aus sowie durch die Einzigartigkeit der nationalen Gesetzgebungen, die ihre Zuständigkeiten und ihren Aufbau festlegen. Ihr gemeinsames Ziel bleibt jedoch gleich: Bürgerinnen und Bürgern den Grundsatz der Rechenschaftspflicht zu gewährleisten, indem der ORKB ermöglicht wird, nicht nur als Prüferin, sondern auch als Richterin tätig zu sein.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass sich die beiden Aufgaben – Urteilen und Prüfen – nicht gegenseitig behindern, sondern vielmehr ergänzen.
Wieso machen wir das?
Grundsätzlich sind wir der Ansicht, dass uns unsere Rechtsprechungsbefugnisse einen Mehrwert verleihen, eine gestärkte Unabhängigkeit, die allen Aufgaben der ORKB zugutekommt, eine Befugnis, welche die Erkenntnisse und Empfehlungen des Prüfpersonals erweitern sowie ergänzen kann. Die umfassende Kenntnis einer ORKB über die öffentlichen Einrichtungen, die regelmäßig ihren Prüfungen sowie ihrer Rechtsprechung unterliegen, ist ein großer Vorteil bei der Aufdeckung der verbreitetsten rechtswidrigen Praktiken sowie deren Sanktionierung oder der Weiterleitung der schuldigen Managerinnen bzw. Manager des öffentlichen Sektors an die zuständigen Justizbehörden, wenn es sich um einen strafrechtlichen Tatbestand handelt. Es ist, als würde die Rechtsprechungsbefugnis zum bewaffneten Arm der ORKB, der in solchen Fällen sehr nützlich ist.
Wir erfüllen unsere Aufgaben mit und dank der höchsten Unabhängigkeit, die uns unsere Rechtsprechungsbefugnis selbst verleiht: Kraft des Status eines Gerichts (oder eines ähnlichen Organs) und der damit einhergehenden Garantien genießt eine ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen für die Erfüllung dieser Aufgabe mehr Unabhängigkeit. Und diese Unabhängigkeit färbt zwangsläufig auch auf die nicht rechtsprechenden Aufgaben der ORKB ab.
Dieser Mehrwert kommt daher nicht nur ORKB zugute, sondern vor allem der Gesamtgesellschaft. Die wirksame und fachlichen Normen entsprechende Ausübung der Rechtsprechungsbefugnisse einer ORKB verbessert nämlich die Regierungsführung, stärkt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die öffentliche Finanzverwaltung und ist ein konkretes Zeichen für die Rechenschaftspflicht der Managerinnen und Manager des öffentlichen Sektors, was wiederum die Glaubwürdigkeit und Legitimität der politischen Führung steigert.
Wie gehen wir vor?
Es ist wichtig, zu verstehen, dass Rechtsprechungsbefugnisse im Allgemeinen mit der Hilfe einer Staatsanwaltschaft, die in der Regel für die sogenannte „Einleitung der Strafverfolgung“ (gerichtliche Verfahren) zuständig ist, ausgeübt werden.
Als ORKB mit Rechtsprechungsbefugnis prüfen wir nicht nur unter strenger Einhaltung der internationalen Prüfnormen der INTOSAI, sondern auch im Einklang mit der Ursprungskultur der Beweisführung und Überprüfung, die dem „kontradiktorischen Verfahren“ zugrunde liegt, und besonders anspruchsvollen Verfahrensregeln sowie beruflichen und ethischen Normen, die eine integrierte Qualitätskontrolle gewährleisten.
Diese Grundsätze, die von nun an Teil der Grundprinzipien der INTOSAI sind, wurden in der INTOSAI-P 50 festgelegt. Zu verdanken ist das der harten Arbeit des Forums der ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen, das im Jahr 2015 in Paris gegründet wurde. Die INTOSAI-P 50 bildet einen festen Bestandteil des „Rahmenwerks für Fachliche Verlautbarungen der INTOSAI (IFPP)“ und ihre 12 Grundsätze sind für die Anwendung in Verbindung mit allen anderen fachlichen Verlautbarungen gedacht: Die INTOSAI-P 50 widerspricht keiner einzigen.
Auf der anderen Seite trägt die INTOSAI-P 50 zur Schließung einer Lücke bei: Sie ist das fehlende Teil des Puzzles aus zahlreichen fachlichen Verlautbarungen, in denen die Rechtsprechungstätigkeit von ORKB zwar erwähnt, aber bisher nie definiert wurde.
Das Forum verfasste Leitlinien zur Unterstützung von ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen bei der Erarbeitung oder Umsetzung der 12 in der INTOSAI-P 50 aufgelisteten Grundsätze. Das Komitee für den Austausch von Wissen und für Wissensmanagement-Dienste (KSC) könnte diese – wie ich hoffe – bald offiziell genehmigen.
ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen sind entschlossen, ihre gemeinsamen Bemühungen innerhalb und außerhalb der INTOSAI fortzuführen, ihr Wissen sowie bewährte Verfahren auszutauschen und die vollständige Anerkennung ihrer Besonderheit sowie des Nutzens, den sie der Gesellschaft erbringen, zu erwirken.
Überzeugt davon, dass sie der INTOSAI-Gemeinschaft interessante Dinge zu berichten haben, sind ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen stolz, sich mit dieser Sonderausgabe bei ihren Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt vorstellen zu können.
Ich hoffe, Sie finden diese Ausgabe informativ und nützlich.
– Pierre Moscovici