von: Dr. Brahim BEN BIH Generalstaatsanwalt beim Rechnungshof des Königreichs Marokko
Betrug in der öffentlichen Verwaltung kann als missbräuchliche Machtausübung durch eine Person mit Amtsbefugnissen oder -aufgaben, die damit ihre eigenen oder private Interessen fördert, definiert werden.
In Anbetracht der mit Betrug einhergehenden Risiken scheute das Königreich Marokko keine Mühe, um ein umfassendes und ganzheitliches Zukunftsbild zur Bewältigung dieser globalen Herausforderung, welche die wirtschaftliche und soziale Entwicklung beeinträchtigt, voranzutreiben. Die besondere Schwerpunktsetzung Marokkos auf die Betrugsbekämpfung spiegelt sich in der Verfassung aus dem Jahr 2011 wider. Darin wurden mit guter Regierungsführung befasste Stellen auf verfassungsrechtlichen Status gehoben und die Grundsätze der guten Regierungsführung(1), Transparenz, Rechenschaftspflicht und Moralisierung des öffentlichen Lebens(2) verankert. Der Rechnungshof wurde mit dem Schutz dieser Grundsätze betraut(3).
I- Dem Rechnungshof in der Betrugsbekämpfung übertragene Befugnisse
Bevor wir einen genaueren Blick darauf werfen, wie der Rechnungshof an der Betrugsbekämpfung mitwirkt, sollte in Erinnerung gerufen werden, dass sich die Institution durch ein Doppelmandat auszeichnet. Auf der einen Seite hat sie Rechtsprechungsbefugnisse, die sich aus zwei Aufgabenbereichen zusammensetzen: der Beurteilung der Rechnungsführung und der Ausübung der Haushalts- sowie Finanzdisziplin. Auf der anderen Seite hat sie auch andere Befugnisse, die unter anderem einen Schwerpunkt auf die qualitative Beurteilung der Verwaltung, die Evaluierung und Überwachung (Wirtschaftlichkeitsprüfungen) setzen. Diese Dualität führt zu einer ganzheitlichen Sichtweise auf Kontrolle, die darin besteht, Brücken zwischen diesen Aufgabenbereichen zu schlagen(4), um die Richterinnen und Richter im Bereich der Staatsfinanzen in die Lage zu versetzen, öffentliche Gelder umfassend zu schützen.
Brücken zwischen diesen Aufgabenbereichen zu schlagen(4), um die Richterinnen und Richter im Bereich der Staatsfinanzen in die Lage zu versetzen, öffentliche Gelder umfassend zu schützen.
Vor diesem Hintergrund hat die Mitwirkung des Rechnungshofs an der Betrugsbekämpfung viele Gesichter, die von der Prävention über die Feststellung bis hin zur Denunziation reichen. Zunächst manifestiert sie sich durch die Verpflichtung der Managerinnen und Manager des öffentlichen Sektors, Rechenschaft abzulegen. Unter Androhung von Geldstrafen müssen sie all ihre Handlungen, die sie im Zuge ihrer Pflichterfüllung tätigen, sowie die Folgen dieser Handlungen rechtfertigen.
Die Betrugsbekämpfung erfordert ebenso die Gewährleistung der finanziellen Ordnungsmäßigkeit seitens des Rechnungshofs. Mit Betrug geht zwangsläufig ein Verstoß gegen Gesetze, Regelungen und spezifische Anweisungen einer Organisation einher.
Der Rechnungshof bedient sich ebenfalls der Vorgehensweise des faktischen Managements, um bestimmte betrügerische Handlungen zu erfassen, zum Beispiel die Erteilung eines fiktiven Mandats, die Veruntreuung von Geldern und die Erstellung falscher Belegdokumente.
Wenn man die Bestandselemente einer Straftat im Bereich der öffentlichen Finanzen betrachtet, kann man zu dem Schluss kommen, dass diese in schwerwiegenden Fällen (erschwerende Umstände in Fällen der Haushalts- und Finanzdisziplin oder Verwaltung in böser Absicht) gewöhnlichen Finanzstraftaten, zum Beispiel Verlust und Veruntreuung von Geldern, Fälschung und illegaler Beteiligung, ähneln.
Zudem beabsichtigt der Rechnungshof durch seine nicht-rechtsprechenden Kontrollen, zur qualitativen Verbesserung der Führung öffentlicher Stellen sowie zur Förderung guter Regierungsführung beizutragen. Diese Kontrollen bilden eine weitere Absicherungsgarantie gegen jede Form des Betrugs. Bei der Ausübung dieser Befugnisse kann der Rechnungshof Risiken für betrügerische Handlungen, zum Beispiel Schwachstellen im internen Kontroll-, im Buchhaltungs- und Finanzverwaltungssystem sowie Verstöße gegen Regelungen bzw. Berufspflichten, feststellen.
In ähnlicher Weise bietet das System der Vermögenserklärung seitens der öffentlichen Bediensteten – das von Art. 147 der Verfassung aus dem Jahr 2011 eingeführt wurde – dem Rechnungshof eine weitere Möglichkeit, die Vermögensentwicklung öffentlicher Bediensteter unter die Lupe zu nehmen und an der Betrugsbekämpfung mitzuwirken. Das als Element der Transparenz und Information wahrgenommene System dient dem Rechnungshof als wirksames Hilfsmittel für die Prävention und Aufdeckung von Betrugsfällen.Gleiches gilt für die Veröffentlichung der Arbeit des Rechnungshofs. Dieses verfassungsrechtliche Vorrecht(5) trägt zur Prävention betrügerischer Praktiken bei, indem das Bewusstsein unter Managerinnen und Managern des öffentlichen Sektors geschärft, das Wiederauftreten von Straftaten vermieden und durch Überwachung sowie Sanktionen ein Zeichen gesetzt wird. Durch die Veröffentlichung seiner Arbeit trägt der Rechnungshof auch zur Förderung einer guten Verwaltungskultur und zur Konsolidierung der Grundsätze und Nutzen guter Regierungsführung bei.
II – Aufdeckung und Meldung von Betrugsfällen: die Rolle der Staatsanwaltschaft an der ORKB Marokko
Wie oben erwähnt kann die Aufdeckung von Betrugsfällen auf Beobachtungen und Unregelmäßigkeiten, die im Zuge der Tätigkeiten des Rechnungshofs festgestellt wurden, beruhen. Die Tätigkeiten können der Ermittlung von Kriterien (was sollte sein), Nachweisen (was ist), Ursachen (wieso es eine Abweichung vom Kriterium gibt) und Folgen (Auswirkungen)(6) dienen. Sie können prüfenden Stellen ebenfalls dazu dienen, Nachweise zu ermitteln, die das Bestehen betrügerischen Verhaltens in Zweifel ziehen. Nachweise können in vielen Formen vorliegen: organisatorisch, buchhalterisch, analytisch, transaktionell, persönlich, zeitlich, visuell und physisch. Auch Unterlagen, Beschwerden, Berichte, Reservierungen usw. können Nachweise darstellen.
Unter demselben Gesichtspunkt kann die königliche Staatsanwaltschaft beim Rechnungshof in der Ausübung ihrer Funktion Veruntreuungen ermitteln, Fälschungsfälle oder Handlungsweisen, die wahrscheinlich zu Betrug führen, aufzeigen. Neben der Befugnis, in Angelegenheiten der Haushalts- und Finanzdisziplin(7) gerichtliche Verfahren einzuleiten, geht aus Art. 111 des Rechnungshofgesetzes hervor, dass die königliche Staatsanwaltschaft beim Rechnungshof die Befugnis hat, sämtliche vom Rechnungshof aufgedeckten Sachverhalte infolge der Anwendung verschiedener rechtsprechender und nicht-rechtsprechender Befugnisse, die unter Umständen zu strafrechtlichen Sanktionen führen, zu denunzieren. In diesem Fall leitet sie die Angelegenheit an die Staatsanwältin bzw. den Staatsanwalt beim Kassationshof, den Sitz der Staatsanwaltschaft, weiter.
Da jedoch ein Verfahren vor dem Gerichtshof die Verhängung disziplinarischer und strafrechtlicher Maßnahmen nicht ausschließt(8), können bestimmte Sachverhalte sowohl finanzielle als auch strafrechtliche Verstöße darstellen. Angesichts dieser hybriden Situationen kann die Staatsanwaltschaft beim Rechnungshof, kraft Ermessens und des Grundsatzes der guten Justiz, die Sachverhalte prüfen, um über ihre Einordnung zu entscheiden (Strafsache oder Verstoß im Bereich öffentliche Finanzen); dabei werden unter anderem folgende Kriterien berücksichtigt: Schweregrad des Sachverhalts, Vorliegen eines moralischen Elements, Verdacht auf einen unrechtmäßigen Vorteil oder ein anderes Delikt und das Vorliegen eines Schadens.
Im Zeitraum 2012–2023 wurden infolge der Kontrolltätigkeiten des Rechnungshofs 116 Fälle vermeintlich betrügerischer Verhaltensweisen aufgedeckt; das sind durchschnittlich 10 Fälle pro Jahr. Die an die Strafgerichtshöfe weitergeleiteten Fälle betrafen vorrangig Folgendes: Steuerung des Vergabeverfahrens für einen öffentlichen Auftrag, Nichteinhaltung des Gleichstellungs- und Wettbewerbsgrundsatzes beim Zugang zu öffentlichen Aufträgen, Überfakturierung öffentlicher Aufträge, Aufwendungen ohne entsprechend erbrachte Leistungen, Verrechnung der Affiliations- und Mitgliedskosten bei ausländischen Sozialversicherungsfonds zulasten des Budgets der öffentlichen Stelle ohne Rechtsgrundlage, fiktive Mandate (ratione materiae, ratione temporis, ratione personae), Vorlage fehlerhafter Rechnungsabschlüsse, Nutzung der Vermögenswerte der Organisation für persönliche Zwecke, Doppelvergütung einer Direktorin bzw. eines Direktors eines Staatsunternehmens für die Unternehmensleitung und ihren bzw. seinen Status als Beamtin bzw. Beamter ohne entsprechend erbrachte Leistung und Anschaffung von Ausrüstung ohne Bedarfsgrundlage.
Abschließend muss hervorgehoben werden, dass die Verbreitung der Werte Transparenz und Redlichkeit sowie die Betrugsbekämpfung die Einführung eines kollektiven und partizipativen Ansatzes erfordert. Die Mitwirkung des Rechnungshofs des Königreichs Marokko an der Betrugsbekämpfung, vorrangig durch Präventions- und Aufdeckungsmaßnahmen, entspricht dieser Logik voll und ganz. Der Rechnungshof verfolgt das Ziel, den Schutz des öffentlichen Finanzsystems vor allen Formen des Missbrauchs, den Erhalt öffentlicher Finanzen sowie deren ordnungsgemäße Verwendung auf der einen Seite mit der Beurteilung der Leistungsfähigkeit verschiedener öffentlicher Stellen, dem Kampf gegen Misswirtschaft und den positiven Wirkungen seiner Empfehlungen auf der anderen Seite zu vereinen.