von Denis Gettliffe, Projektmanager für die Förderung internationaler Aktivitäten des französischen Rechnungshofs
ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen werden oft missverstanden und der Wert ihrer besonderen Merkmale wird in der Regel nicht richtig eingeschätzt. Eine ORKB verfügt über eine Rechtsprechungsbefugnis, wenn sie das gesetzliche Mandat erhalten hat, eine Person wegen einer Unregelmäßigkeit oder eines Schadens im Zusammenhang mit der Verwendung öffentlicher Gelder infolge eines kontradiktorischen Verfahrens zu sanktionieren, vorausgesetzt dies fällt in den Zuständigkeitsbereich der ORKB und kann der betreffenden Person zugeordnet werden.
Die Norm INTOSAI-P 50 (die in einem anderen Artikel dieser Ausgabe zur P-50-Norm im Detail dargelegt wird) legt 12 Grundsätze für die Rechtsprechungstätigkeiten von ORKB fest.
Ungefähr 25 % aller in der INTOSAI vertretenen Obersten Rechnungskontrollbehörden (ORKB) üben Rechtsprechungstätigkeiten aus. Das Forum der ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen, das im Jahr 2015 in Paris gegründet wurde, fasst jene ORKB zusammen, die ihren Rechtsprechungsauftrag erklären und fördern wollen.
Im Jahr 2021 verfasste das Forum in Lissabon ein Plädoyer (auf Englisch), das die 7 grundlegenden Nutzen der Rechtsprechungsbefugnisse von ORKB darlegt.
Dieses Plädoyer detailliert die besondere Bedeutung der Sanktionierungs- und Entschädigungsbefugnisse sowie den Nutzen, der für politische Stellen sowie für die Bürgerinnen und Bürger des Landes besteht, wenn ORKB über diese Befugnisse verfügen.
1.Eine Richterin bzw. ein Richter, die bzw. der die Erkenntnisse und Empfehlungen der Prüferin bzw. des Prüfers ausbauen und ergänzen kann
Die gesetzlich verankerte und wirksam von der ORKB ausgeübte Sanktionierungsbefugnis bereichert die Kontrollaufgaben. Je nach Staat können Richterinnen und Richter Abhilfemaßnahmen und/oder Abschreckung („Strafen“) einsetzen. Die Urheberinnen und Urheber der Verstöße oder Schäden können dazu verurteilt werden, die betreffenden Gelder vollständig oder teilweise zurückzuzahlen – kompensatorischen Schaden oder Folgeschäden –, Bußgelder zu zahlen oder disziplinar- und berufsrechtliche Sanktionen zu erhalten.
Die Rechtsprechungsbefugnis wird so zum bewaffneten Arm der ORKB. Sie ermöglicht es der ORKB, durch Sanktionen bzw. Schadenersatz bestimmte kritische Beobachtungen zu rechtswidrigen oder schädigenden Handlungen, die in Folge von Prüfungen angestellt wurden, wirksam weiterzuführen, ohne auf die Intervention einer anderen Verwaltungs- oder Justizbehörde zurückgreifen zu müssen.
Die beiden Funktionen – Urteilen und Prüfen – behindern sich nicht gegenseitig, sondern ergänzen sich. Wenn die infolge von Prüfungen oder Kontrollen festgestellten Verstöße der Gerichtsbarkeit der ORKB unterliegen, können die Fristen für die Reaktion auf die Feststellung und für die Sanktionierung dieser Verstöße folglich verkürzt werden. In diesem Fall sind Ermittlung, Untersuchung und Entscheidungsfindung in einer einzigen Institution gebündelt, was wirksamer und sparsamer ist.
2. Eine zusätzliche Garantie der gründlichen Verwaltung für Bürgerinnen und Bürger sowie Steuerzahlerinnen und -zahler
Wenn die Kontroll-, Rechnungslegungs- und Entscheidungsbefugnis bezüglich der Haftung einer ORKB zugewiesen ist, stärkt dies die Überzeugung der Managerinnen und Manager, Bürgerinnen und Bürger sowie der öffentlichen Behörden, dass das Handeln der ORKB wirksam ist und zu konkreten Konsequenzen führt.
Die Rechtsprechungsbefugnis ermöglicht es, besser auf die gestiegene Nachfrage der Bürgerinnen und Bürger nach Rechenschaftspflicht zu reagieren, und stärkt somit den Rechtsstaat.
3. Ein konkretes Zeichen für die persönliche Rechenschaftspflicht der Managerinnen und Manager sowie für die damit einhergehenden Forderungen
Die umfassende Kenntnis einer ORKB über die öffentlichen Einrichtungen, die regelmäßig ihren Prüfungen sowie ihrer Rechtsprechung unterliegen, ist ein großer Vorteil bei der Aufdeckung der verbreitetsten rechtswidrigen Praktiken sowie deren Sanktionierung oder der Weiterleitung der schuldigen Managerinnen bzw. Manager des öffentlichen Sektors an die zuständigen Behörden, wenn sie strafrechtlicher Natur sind.
Die ORKB mit Rechtsprechungsbefugnis muss ihr Handeln daher zwingend mit den Justizbehörden, die mit der Bekämpfung von Straftaten betraut sind, koordinieren. Dies wird vereinfacht, wenn sich die jeweiligen Organisationen, die beide rechtsprechenden Charakter haben, ähneln.
Diese Koordinierung bildet eine weitere Garantie für das Bestehen eines zuverlässigen und kohärenten Systems im Kampf gegen Verletzungen der Redlichkeit, was ebenfalls zur Betrugsvorbeugung sowie Integritätsförderung beiträgt.
4. Eine gute Alternative zur „allumfassenden Strafverfolgung“
Die Rechtsprechungsbefugnisse der ORKB ermöglichen schnelle und angemessene gerichtliche Verfolgungen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Strafgerichtsbarkeit fallen. Denn es handelt sich um eine effiziente und verhältnismäßige Lösung, welche die Sanktionierung und/oder die Wiedergutmachung eines rechtswidrigen oder fahrlässigen Verhaltens einer Managerin bzw. eines Managers sicherstellt.
Dank der Erfahrung im Prüfen und Urteilen hat eine ORKB mit Rechtsprechungsbefugnissen tiefgreifendes Wissen über die politische und administrative Organisation eines Landes sowie über die komplexen Verwendungsregeln für öffentliche Gelder. Sie ist daher in der Lage, eine flexible Rechtsprechung, die an die von Managerinnen und Managern des öffentlichen Sektors unter Umständen begangenen Verstöße angepasst ist, auszubilden.
5. Eine gestärkte Unabhängigkeit zugunsten aller Aufgaben der ORKB
Die Rechtsprechungsbefugnis einer ORKB ermöglicht es ihr, kraft des Status eines Gerichts (oder eines ähnlichen Organs) und der damit einhergehenden von ihr geforderten Garantien, eine gesteigerte Unabhängigkeit, die für die Erfüllung dieser Befugnis notwendig ist, zu genießen.
Diese Unabhängigkeit färbt zwangsläufig auch auf die nicht rechtsprechenden Aufgaben der ORKB ab.
Politische Stellen können sich daher auf die Feststellungen und Urteile der ORKB stützen, um Bürgerinnen und Bürger von der Effizienz des Systems der Finanzkontrolle und der öffentlichen Verwaltung zu überzeugen.
6. Die Urkultur der Beweisführung und Überprüfung, der Ursprung des „kontradiktorischen“ Grundsatzes
Die Rückverfolgbarkeit der Beweismittel, die das gerichtliche Urteil sowie die kontradiktorische Gerichtsverhandlung mit der prozessführenden Partei untermauern, stellen für Managerinnen und Manager des öffentlichen Sektors zusätzliche Garantien für die Professionalität und Unparteilichkeit der ORKB dar.
Die Beweisführungskultur trägt ebenfalls zur Stärkung der Relevanz und Objektivität der Erkenntnisse sowie Empfehlungen der ORKB aus dem Prüfbereich bei. Das kontradiktorische Gerichtsverfahren sorgt dafür, dass die vorgebrachten Beweismittel unbestreitbar sind und den Einwänden der anderen Parteien ausgesetzt werden sowie dass sämtliche Argumente jeder Partei gehört wurden, wodurch die Glaubwürdigkeit der ORKB gestärkt wird.
Somit wird politischen Stellen nicht nur hinsichtlich der Rechtsprechungsbefugnis, sondern auch bezüglich aller anderen Aufgaben der ORKB die Qualität der Tätigkeiten der ORKB versichert, und zwar auf der Grundlage der aus ihrer Rechtsprechungstätigkeit hervorgegangenen Beweisführungskultur.
7. Besonders anspruchsvolle Verfahrensregeln sowie berufliche und ethische Normen als Garanten einer integrierten Qualitätskontrolle
Bei der Ausübung ihrer Rechtsprechungsbefugnisse bietet die ORKB der zu prüfenden Institution dieselben Sorgfalts- und Redlichkeitsgarantien wie eine Richterin bzw. ein Richter jeder prozessführenden Partei. Die Grundlage der gerichtlichen Verfahrensregeln wird vom Gesetzgeber festgelegt, und nicht von der ORKB selbst, was für politische Stellen eine weitere Garantie darstellt.
Die Rechtsprechungsbefugnis dient aufgrund der Art ihrer verfahrensrechtlichen Anforderungen sowohl als Modell als auch als Schulungssystem für alle anderen Aufgaben der ORKB.
Wie wichtig diese Nutzen sind, zeigt sich daran, dass einige Staaten vor Kurzem beschlossen haben, ihre ORKB mit bisher nicht vorhandenen Rechtsprechungsbefugnissen auszustatten (worüber sie in den Beiträgen der ORKB Südafrika, Lettland und Thailand zu dieser Sonderausgabe nachlesen können). Andere planen, dem Forum beizutreten (siehe den Beitrag der ORKB Indonesien zu dieser Sonderausgabe).
Im Einklang mit dem nachhaltigen Entwicklungsziel 16 der Agenda 2030 der Vereinten Nationen stellen diese sieben Nutzen in der Tat einen unbestreitbaren Vorteil für Geberinstitutionen und für die politischen Stellen eines Landes dar, welche die gute Regierungsführung der öffentlichen Finanzen und ihrer Verwaltung sowie die Grundsätze der Rechenschaftspflicht, Transparenz, Gleichstellung, Gerechtigkeit und Effizienz bei der Verwendung öffentlicher Gelder – einschließlich jener, die von internationalen Partnerorganisationen verliehen oder gespendet werden – sicherstellen möchten. Zudem stärkt die wirksame und professionelle Ausübung der Rechtsprechungsbefugnisse einer ORKB das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die öffentliche Finanzverwaltung seitens der politischen Führung und dadurch in deren Glaubwürdigkeit sowie Legitimität und in öffentliche Einrichtungen.
Der Wert des Plädoyers liegt ebenfalls in der Erleichterung der Kommunikation von ORKB mit den Medien, den Bürgerinnen und Bürgern sowie der öffentlichen Meinung.
Das Ziel dieses Plädoyers besteht demnach darin, politische Stellen und internationale Geberorganisationen davon zu überzeugen, dass es im Allgemeininteresse liegt, die Rechtsprechungsbefugnisse von ORKB zu schützen und zu stärken bzw. ORKB mit derartigen Befugnissen auszustatten. Die wirksame und fachlichen Normen entsprechende Ausübung der Rechtsprechungsbefugnisse einer ORKB verbessert die Regierungsführung, stärkt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die öffentliche Finanzverwaltung und dadurch die Glaubwürdigkeit sowie Legitimität der politischen Führung.
Sagen Sie es weiter!